Ein Geschenk des Nils
"Wenn er ansteigt, dann jubiliert das ganze Land!" Gemeint war mit diesem alten Hymnus der Nil. Schon vor zweieinhalbtausend Jahren schrieb der Grieche Herodot: "Ägypten ist ein Geschenk des Nils!" Nirgendwo auf der Welt gibt es etwas Ähnliches: Ein schmales grünes Band fruchtbaren Bodens, umgeben von Wüste. Zu beiden Seiten die Stätten einer mehrtausendjährigen, faszinierenden Geschichte. Wenn je ein Fluss das Schicksal eines Landes und seiner Kultur bestimmt hat, dann dieser, der Nil. Hier entstand vor fünftausend Jahren eine Zivilisation, die zu den hervorragenden Kapiteln der Menschheitsgeschichte gehört. Alles, was Ägypten ausmacht, hat der Nil ihm gegeben. Der Fluss nährt die Menschen, damals wie heute.
Ägypten entwickelte früh einen straff organisierten, zentralistischen Staat. Er bewältigte eine große Gemeinschaftsaufgabe: Die planvolle Nutzung der jährlichen Überschwemmung mit Leben spendendem Nilwasser. Schlamm blieb zurück, wenn die Überflutungen abschwellten und das Wasser in sein Bett zurückfloss. Der Nilschlamm verwandelte sich in fruchtbares Ackerland und war und ist bis heute Rohstoff für Tongefäße und Ziegel, aus denen der Fellache bis in die Gegenwart seine einfachen Hütten baut. Immer war der Nil auch eine Straße. Mit dem Strom lassen sich die Boote nach Norden treiben; stromauf setzen sie die Segel.
In der riesigen Niloase leben die Bauern ähnlich wie vor Tausenden von Jahren. Die Vorfahren dieser Bauern waren es, die in harter Fronarbeit zum Ruhme der Pharaonen beitrugen. Sie wurden während der Sommermonate, wenn die Äcker unter Wasser standen, vom Pharao dienstverpflichtet. Dann wurden die Pyramiden, die Gräber der Gottkönige, gebaut. Memphis, südlich von Kairo gelegen, war die Hauptstadt. Später, als Theben - das heutige Luxor - Hauptstadt des ägyptischen Reiches war, mussten die toten Herrscher erst den Nil überqueren, ehe sie im legendenumwobenen Tal der Könige beigesetzt wurden, in Grabstätten tief im Fels. Gänge, Pfeiler, Mauern und Decken dieser Gräber sind mit mystischen Bildern und Hieroglyphen ausgemalt. Die alten Ägypter beschäftigten sich intensiv mit dem Leben nach dem Tode. Die Körperhülle musste unzerstört sein. So übte der Prozess der Mumifizierung eine große Faszination aus. Die Menschen betrachteten die Einbalsamierung der Leiche als einen wichtigen Teil ihrer Religion, ihres Glaubens an ein Leben nach dem Tode. Dafür rüsteten sie die Toten mit Beigaben aus und machten die Grabkammern der Vornehmen zu Schatztruhen.
Das lockte natürlich auch Räuber an. Viele Gräber waren leer, als Archäologen sie öffneten. Ein Grab war nie von Grabplünderern entdeckt worden. Es war das Grab von Tutanchamun. Als am 26. November 1922 der britische Archäologe Howard Carter mit seinen Helfern die Grabkammer betrat, verschlug es ihnen die Sprache beim Anblick des funkelnden Goldes und der vielen herrlichen Gegenstände. Heute füllen die Schätze aus Tuts Grab viele Säle im Ägyptischen Museum in Kairo.
Drei Jahrtausende war die Hingabe der Bauern an Götter und Könige die Basis für das Pharaonenreich. Es gibt nur wenige Länder auf der Erde, die auf eine kontinuierliche Geschichte von mehreren tausend Jahren zurückblicken können und ihre staatliche Identität behielten. Zu diesen wenigen gehört zweifellos Ägypten.
Geschichte Ägyptens
Begonnen hatte diese einmalige Entwicklung rund 3000 v. Chr., als der mythenumwobene König Menes, nach Herodot der erste ägyptische Pharao, die beiden Reiche Ober- und Unterägyptens einigte. Diesem ersten Pharao folgte eine lange Kette von einunddreißig Dynastien. Mit Alexander dem Großen begann 332 v. Chr. die griechische Herrschaft über Ägypten. Im Jahre 30 v. Chr. wurde Ägypten schließlich römische Provinz und blieb es bis 395 n. Chr.
Die moderne Wissenschaft hat die ägyptische Geschichte in drei Zeitabschnitte gegliedert: Das Alte Reich (ca. 2635 - 2154 v. Chr.), das Mittlere Reich (ca. 2040 - 1785 v. Chr.) und das Neue Reich (ca. 1554 - 1080 v. Chr.). Sie sind durch zwei sogenannte Zwischenzeiten, in denen das Land während mehrerer Jahrzehnte von politischen Wirren erschüttert wurde, voneinander getrennt. Jedes dieser Reiche hat seine besonderen Eigenheiten. Im Alten Reich wurden die großen Pyramiden gebaut. Das Mittlere Reich war eine Periode politischer Expansion und wirtschaftlicher Blüte. Das Ägypten des Neuen Reiches wurde seit etwa 1550 v. Chr. zu einer Großmacht mit Kolonialbesitz in Palästina und Syrien. Als das Neue Reich um 1080 v. Chr. zusammenbrach, war Ägyptens Großmachtstellung für immer zu Ende. Es hat als unabhängiger Staat noch bis ins 4. Jahrhundert v. Chr. bestanden. Die Pharaonen mussten sich ihren Thron allerdings mit fremden Eroberern teilen.
Die Einzigartigkeit der ägyptischen Kultur zeigte sich schon unter den ersten Pharaonen. Alle Gewalt im Staat besaß der Herrscher. Er war König und Gott zugleich, einsamer Gipfel der Gesellschaft. Bei der Ausübung seiner Macht unterstützten ihn hohe Beamte, die selber ein reichgegliedertes Heer von Staatsdienern befehligten. Die Handwerker in den Städten und Dörfern und die Bauern der Niloase waren das wirtschaftliche Rückgrat des Staates.
In allen Epochen war die Schrift ein lebenswichtiges Hilfsmittel der zentralistischen Regierung und Verwaltung. Urkunden konnten verfasst, Anweisungen niedergeschrieben und historische Aufzeichnungen gemacht werden. Der Papyrus kam dem Gedächtnis zu Hilfe und bewahrte der Nachwelt Gedichte, Erzählungen und Geschichten. So war die altägyptische Literatur geboren. Man konnte Steuern mit größter Genauigkeit festsetzen, Land vermessen, Gewichte und Entfernungen messen und die Ergebnisse niederschreiben.
Zwar liegt die Kultur der alten Ägypter zeitlich sehr weit zurück, dennoch ist sie uns heute in mancher Hinsicht besser bekannt als viele andere der Antike. Selbst das Alte Testament berichtet von dem Volk der Ägypter. Letztendlich haben die Ägypter selber uns in Tempeln, Monumenten, Gräbern und auf Papyrusrollen historische Tatsachen und literarische Werke überliefert.
Ägypten heute
Verlassen wir die Geschichte des alten Ägypten und kehren zum Hier und Jetzt zurück. Der Nil schiebt sich schwerfällig und träge, ohne Bezug zur Geschichte, die er mitbestimmt hat, nach Norden. Er bestimmt auch heute noch das Bild Ägyptens.
Das Land besteht zu mehr als 90 % aus Stein- und Sandwüsten. Nur knapp 10 % des Staatsgebietes sind fruchtbar. Mit dieser Tatsache muss Ägypten sich auseinandersetzen.
Wo ausreichend gewässert und gedüngt wird, sind mehrere Ernten im Jahr möglich möglich. Ägypten ist, trotz der Bemühungen um eine Industrialisierung, zunächst ein Agrarland. Damit muss es nahezu 60 Millionen Menschen ernähren. Neben Getreide, Mais und Zitrusfrüchten wird vor allem Gemüse, Baumwolle und Zuckerrohr angebaut. 40 % der Erwerbstätigen arbeiten in der Landwirtschaft und erwirtschaften 25 % des Volkseinkommens und das, obwohl nur ein geringer Teil der Bauern mit modernen Geräten ausgerüstet ist. Insbesondere auf dem Lande gilt noch die traditionelle Rollenverteilung. Das verweist Mann und Frau auf die seit alters her angestammten Plätze.
Der Zwang zur Industrialisierung wird immer stärker. Bemerkenswert ist, dass nach der Südafrikanischen Union Ägypten das am weitesten industrialisierte Land Afrikas ist. Eine solche Entwicklung schürt die Landflucht in die Ballungsgebiete, in die großen Städte. Die Industrie konzentriert sich vorwiegend auf die Großräume Kairo und Alexandria.
Doch in den Dörfern hat die Neuzeit noch nicht begonnen. Für den Fellachen sind Kinder, die man schon früh zu landwirtschaftlichen Arbeiten einsetzt, nach wie vor ein Reichtum und die einzige wirksame Lebensversicherung.
Gegenwärtig erblickt in Ägypten alle 25 Sekunden ein Kind das Licht der Welt. Keine Regierung und keine Volkswirtschaft vermag einem solchen Bevölkerungswachstum standzuhalten. Momentan liegt die jährliche Wachstumsrate bei 2 %; das bedeutet eine Millionen neue Erdenbürger pro Jahr. Die Ernährungsfrage stellt sich so brennender denn je. Die soziale Unrast wächst.
Hier, bei der Fahrt durch die ländlich bestimmte Niloase, bieten sich dem Besucher freundliche Idyllen: Keine Autos, allenfalls Mopeds und Fahrräder, Wasserbüffel in den Bewässerungsgräben, Esel- und Maultierkarren auf ungeteerten Wegen, niedrige, aus Nilschlamm gefertigte Bauernhütten, schwarzgekleidete Frauen, in die Galabiah gehüllte Männer und dazwischen die Dorfjugend, barfüßig. Paradiesische Bilder: Ägypten, wie es in der Vorstellung der Touristen lebt.
Der Assuan-Staudamm in Oberägypten
Bleiben wir bei der Wirklichkeit und gehen nach Assuan, der südlichsten Großstadt des Landes. Hier leben mehr als 200 000 Einwohner, vor allem dunkelhäutige Nubier, hier und in den umliegenden Dörfern. Auf ägyptischem Territorium allein mussten hunderttausend ihre Behausungen verlassen und wurden neu angesiedelt. Der Grund für diese Massenevakuierung war das Wasser des Sees, der sich hinter dem in den sechziger Jahren gebauten neuen Staudamm bildete und ihre Dörfer überschwemmte. Ausgangspunkt der Überlegungen für dieses riesige, künstliche Wasserbecken war die Absicht, die Landwirtschaft unabhängig von den jährlichen Wasserstandsschwankungen zu machen, die zusätzliche Erschließung von Neuland zu gewährleisten und der wachsenden Industrie die notwendige Energie zur Verfügung zu stellen. Weltweit ist der Nasser-See, der mit 510 km Länge weit in den Sudan hineinreicht, das größte künstliche Wasserreservoir.
Nach Fertigstellung dieses gigantischen Hochdammes bemerkte man, dass dem Lande ungeahnte ökologische Schwierigkeiten beschert worden waren. Durch die ganzjährige Bewässerung wurden mindestens 400 000 Hektar Land neu gewonnen. Bis zu drei Ernten können jährlich eingefahren werden. Flutkatastrophen und Dürreperioden gibt es nicht mehr. Doch die vielen Nachteile geben zu denken. Das jetzt kontrolliert ablaufende Wasser lagert seinen Schlammsegen mit dem hochaktiven organischen Material im See ab. Das Wasser wird nährstoffarm. Viele tausend Tonnen teuren Kunstdüngers müssen pro Jahr eingeführt werden. Dessen Rückstände versalzen den ausgelaugten Boden. Der um 1,60 Meter angestiegene Grundwasserspiegel erreicht die Grundmauern der antiken Tempel, löst die Mineralien im Gestein und verursacht so große Schäden. Die einmaligen Kult- und Kulturbauten Oberägyptens wären in den Fluten des Stausees für immer versunken, wenn nicht die UNESCO geholfen hätte, sie zu retten. Das Projekt kostete 42 Millionen Dollar. Arbeiter schnitten in Abu Simbel ab Mai 1965 den Tempel des Ramses und den benachbarten, nach Ramses' Lieblingsfrau benannten Tempel der Nefertari in Tausende von Blöcken und setzten diese in den folgenden drei Jahren auf einem neuen Platz 180 Meter landeinwärts und 64 Meter höher wieder zusammen. Statischen Halt gibt dem 3000 Jahre alten Pharaonentempel ein Gerüst aus Betonkuppeln. Insgesamt fünfundzwanzig Bauwerke wurden so vor den Wassermassen des Stausees gerettet.
Kairo - Metropole am Nil
Wir sind wieder in Kairo. Der Name heißt auf arabisch El Kahira, "die Siegreiche". Kairo ist mit seinen ca. 15 Millionen Einwohnern nicht nur die größte Stadt Afrikas, sondern auch die größte islamische Stadt der Welt. Es ist ein Zentrum islamischer Gelehrsamkeit und Kunst, Mittlerin zwischen Orient und Okzident. Der Reiz Kairos liegt darin, dass es das Alte mit dem Neuen, das Traditionelle mit dem Modernen verbindet. In den Bauten spiegeln sich die drei Hochkulturen Ägyptens, die pharaonische, die koptische und die islamische wider.
Da ist der orientalische Zauber in den Souks und Gassen. Von der Zitadelle, die Saladin 1176 bauen ließ, schweift der Blick gen Süden. Entfernt, im zarten Blassblau, erahnt man die drei seit Jahrtausenden weltberühmten Pyramiden von Gizeh. Kairo, die "Tausendjährige", hat natürlich eine islamische Dominanz. Mehr als 600 sehenswerte islamische Bauwerke aus den verschiedenen Stilepochen können bewundert werden: Moscheen, Paläste, Minarette, Gräber und Stadttore. Das Ornament, die Arabeske, die Kunst des Symbolischen und Dekorativen fasziniert den Betrachter. Kairo, das ist muselmanisches Mittelalter und lebendige Moderne, Profanes neben Erhabenem, Pferde- und Eselskarren neben laut hupenden Autos.
Bei aller historischen Größe wird niemand die brennenden Probleme und die allgegenwärtige Not Kairos übersehen. Sie liegt begründet in der Übervölkerung der Stadt. Ursprünglich für zwei Millionen Menschen geplant, beherbergt sie heute 15 Millionen Bewohner. Ein Wunder, oder besser gesagt ein Geheimnis, dass der Verkehr noch immer einigermaßen fließt, Wasser aus den Hähnen kommt und das Abwassersystem nur gelegentlich zusammenbricht.
Die Ägypter sind ein Bauernvolk, und das sieht man auch in Kairo. Wie selbstverständlich werden Kamele und Schafherden über die Straße getrieben. Allen Problemen zum Trotz wird der Alltag von einer gewissen Lebensfreude bestimmt, ohne Depression, frei von Aggression. Auch ein Geheimnis!
Über das "Alte Ägypten"
Lassen wir noch einmal einen berühmten Reisenden zu Wort kommen, den griechischen Historiker Herodot. Er schrieb um 450 v. Chr. in sein Tagebuch: "Ägypten ist ein gar zu wunderbares Land und hat mehr Merkwürdigkeiten als irgend ein anderes. Wie der Himmel in Ägypten anders aussieht als anderswo und der Fluss dort anders beschaffen ist als andere Flüsse, so haben die Ägypter auch ganz andere Sitten und Gewohnheiten als andere Menschen." Gewiss sieht Herodot dies aus seiner besonderen Sicht als Grieche, waren doch die Gegensätze riesig, die in der Antike die hellenistische von der ägyptischen Kultur trennten. Griechenland kannte als Mittelpunkt die Polis, den Stadtstaat, und erstrebte Ideale wie Rationalismus und Demokratie. Ägypten lebte aus den Konzepten von Tradition, heiligem Königtum und dem Leben nach dem Tode.
Auch uns erscheint es fast unmöglich, das "Alte Ägypten" wirklich zu verstehen. Wie schon die Griechen sind auch wir heute noch fasziniert von dem, was wir nicht begreifen. Ägypten ist und bleibt für uns in vielem rätselhaft, ein Land, dessen Schrift Jahrhunderte lang nicht entziffert werden konnte, dessen ureigenste Überzeugungen geheimnisvoll blieben. Die riesenhaften Tempel und Gräber sind auch heute noch ein Zeugnis jener einzigartigen Entschlossenheit, den Tod zu besiegen und dem unaufhaltsamen Lauf der Zeit zu entfliehen.
Ägypten hört nicht auf, unsere Phantasie zu beschäftigen!