Insel der Götter, Künstler und Vulkane
Vom höchsten Berg der Insel, dem Vulkan Gunung Agung, scheinen auch heute noch die Götter auf die Balinesen herabzuschauen und die Geschicke der Menschen zu lenken. Nicht von ungefähr liegt der Besakih-Tempel, der Muttertempel der Insel, am Hang dieses 3142 Meter hohen Vulkans. Die Balinesen haben guten Grund, den Göttern zu opfern und sie bei Laune zu halten, denn diese Götter beherrschen die Naturkräfte.
Erdbeben kommen hier häufig vor, und manchmal sind sie so stark, dass sie ganze Dörfer vollständig zerstören. Die älteren Balinesen können sich nur zu gut an den 17. März 1963 erinnern. Die Vorbereitungen für das "Eka Dasa Rudra", das größte und bedeutendste Tempelfest, das nur alle hundert Jahre im Besakih-Tempel stattfindet, waren voll im Gange, als der Gunung Agung ausbrach und mehr als 1000 Menschen tötete und 150 000 obdachlos machte. Den Einwohnern war klar, dass sie den Zorn des mächtigen Gottes Schiwa, des Gottes der Zerstörung, geweckt hatten und er sie dafür büßen ließ. Die ersten Rauchschwaden stiegen aus dem Krater des Vulkans auf, und die Erde begann heftig zu beben; die Menschen im Tempel knieten sich nieder und beteten, anstatt vor der Lava zu fliehen. Wunderbarerweise kam die glühende Gesteinsmasse nur wenige hundert Meter von ihnen entfernt zum Stillstand. Diese Menschen überlebten, andere hatten weniger Glück und starben an den Giftgasen und der großen Hitze, die die Lava vor sich herschob. Erst 16 Jahre später, im Jahre 1979, wurde das "Eka Dasa Rudra" gefeiert, um die von Dämonen gestörte Harmonie der Welt mit ebenso geheimnisvollen wie farbenprächtigen Riten wiederherzustellen. Diesmal ließ Schiwa es zu, dass das Fest ohne Störungen gefeiert werden konnte.
Bis auf den heutigen Tag hat Bali seine uralte hinduistisch-indonesische Tradition bewahrt, während die Nachbarinseln mittlerweile vollständig zum Islam übergegangen sind. Auf Bali blieb so eine einmalige kulturelle Lebendigkeit und Vielfalt erhalten.
Nach dem Glauben der Balinesen wird die natürliche Welt von den gegensätzlichen Kräften von Gut und Böse im Gleichgewicht gehalten. Dieser ewige Konflikt wird in ihren Schau- und Tanzspielen von zwei bemerkenswerten Gestalten, von Barong und Rangda, ausgedrückt. Der Barong beschützt die Menschen. Er ist ein Fabelwesen, ein Zotteltier mit dem Gesicht eines Löwen, vier Beinen und einem hochgestellten wedelnden Schwanz. Rangda, erkennbar an ihren Fangzähnen und der heraushängenden Zunge, ist seine furchterregende Gegnerin, die Königin der Hexen, die über die Mächte der Dunkelheit herrscht. Der Kampf dieser beiden gegensätzlichen Kräfte endet immer unentschieden; sowohl der gute Barong als auch die böse Rangda überleben und setzen ihren Kampf an einem anderen Tag fort.
Drama und Tanz sind auf Bali eine Kunstform und gehören nicht zwei musischen Bereichen an wie bei uns. Sie entstanden aus der religiösen Tradition heraus und besitzen auch heute noch zumeist religiöse Bedeutung. So ist die Unterhaltung der Götter durch Musik und Tanz dem Balinesen so selbstverständlich wie die Darbringung von Opfergaben.
Auch die Menschen erfreut der Tanz und erfüllt viele Bedürfnisse und Zwecke. Der Baris ist Ausdruck kriegerischer Kraft. Der wohl schönste balinesische Tanz, der Legong, wird als ästhetische Darbietung geschätzt. Beim Kebyar zeigt ein Solotänzer sein virtuoses Können. Um Spaß und Flirt geht es beim Joged und Janger, während im Wayang-Schattenspiel historische und mythische Epen ihren künstlerischen Ausdruck finden.
Das heutige Bali ist vor allem eine Insel der Künstler - der Bildhauer, Holzschnitzer, Maler, Musikanten und Tänzer. Nicht nur in den größeren Orten, selbst auch in abgelegenen Dörfern hat die künstlerische Kraft der Menschen ihre Spuren hinterlassen. Ob es nun uralte Steinskulpturen sind oder aus Buntpapier geklebte Dekorationen für ein dörfliches Tempelfest - überall trifft man auf den Wunsch der Menschen, Formen und Farben zu gestalten und ihre Gefühle, Hoffnungen und Ängste in Musik und im Tanz auszudrücken. Quell all dieser künstlerischen Aktivitäten sind zum einen die vielen Talente, zum andern die Anstöße der Religion in der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Welt voller Götter und Dämonen. Im Gegensatz zu anderen Religionen erfüllt der Hinduismus seinen geistigen Kosmos mit einer Fülle von Göttern und Phantasiegestalten, die der kunstvollen Ausgestaltung keine Grenzen setzt. Vielgestaltig haben balinesische Künstler ihre Gottheiten dargestellt: Sie haben ihre Götter gemalt, in Stein gehauen, in Holz geschnitzt und in Bronze gegossen, um so den Inhalt ihres Glaubens anschaulich zu machen.
Viele Tempel sind von den balinesischen Künstlern mit Reliefs und Skulpturen ausgestattet. Allerdings überrascht es, dass im Zentrum der Tempel sich keine Götterbilder befinden, sondern nur leere Throne. Die wichtigste Gottheit der balinesischen Hindus ist Schiwa, der ewige Zerstörer und Erneuerer. Im Gegensatz zu ihm spielen die andern beiden Götter der Dreiheit - Brahma (der Weltenschöpfer) und Wischnu (der Welterhalter) - nur eine untergeordnete Rolle. Schiwas Thron ist jeweils der größte und steht in der Mitte; sein Schrein hat im Tempelbereich die höchstmögliche Zahl von neun bis elf Dächern.
Die balinesischen Tempel sind umfriedete Bezirke, in denen sich mehrere Schreine (Merus) für die verschiedenen Gottheiten befinden. Die Dächer sind übereinandergeordnet und haben ein pagodenähnliches Aussehen. Die Zahl der Dächer ist bestimmt durch den Rang der jeweiligen Gottheit. Eine eigenartig gespaltene Form haben die Tempeltore mit ihren phantasievollen Skulpturen und Reliefs, Wächterfiguren und Ornamenten. Diese Tore sind häufig oben offen; dahinter versperrt eine Quermauer den Durchblick, um bösen Geistern den Eintritt zu versperren.
Auch auf Bali spielen die Gebräuche und Riten des Totenkults eine besondere Rolle. Nach der Vorstellung des Hinduismus dient der Körper dem Lebewesen nur als eine vorübergehende Hülle. Die Todesriten sollen bewirken, dass die Seele von dem toten Körper gereinigt und von seinen Bindungen gelöst und befreit wird. Feuer und Wasser spielen dabei die Rolle der Reinigung und Wandlung. Dabei wird die Verbrennung des toten Körpers als erster Schritt zur Befreiung der Seele angesehen. Ohne Trauer - als Fest für die ganze Gemeinde - wird die Verbrennungszeremonie vollzogen. Die Asche wird dem Wasser - dem Meer oder einem Fluss - zur weiteren Reinigung der Seele übergeben, die dadurch endgültige Freiheit wiedererlangt, um sich erneut in den Kreislauf der Wiedergeburten einreihen zu können.
Für den Balinesen bedeutet seine Insel die ganze Welt. Wenn auch draußen noch andere Welten existieren, seine Welt ist vollkommen und in sich geschlossen. Alles, was er für sein körperliches und geistiges Wohl benötigt, wird ihm hier in reichem Maße geschenkt. Kaum ein Tag vergeht ohne ein Tempelfest oder eine Prozession. Täglich erweist der Balinese den Göttern und Nymphen, Geistern und Dämonen seine Ehrfurcht, um sie gnädig zu stimmen. Dem Fremden, vor allem dem Besucher aus der westlichen Welt, mag diese Lebensweise skurril und pittoresk erscheinen. Der Durchschnittsbalinese auf dem Land ist tief in seiner Religion verwurzelt. Er kümmert sich nicht darum, ob die moderne Welt seine Lebensweise skurril, pittoresk oder exotisch findet. Seine Religion ist ihm Lebensmotivation und Halt. Religion ist für ihn eine Gemeinschaftssache und hat eine soziale Dimension. Von Tempelfest zu Tempelfest vollzieht sich der Lebensrhythmus des Balinesen. Vor jedem Haus, selbst vor jedem Laden mit Touristensouvenirs, duften Räucherstäbchen in Körbchen, geflochten aus Blättern und Blüten. Sie sollen den feindlichen Mächten, die das Leben und Schaffen des Balinesen bedrohen, ihre Kraft rauben.
Bali ist mehr als nur eine kleine Insel auf der Landkarte. Bali ist das Erlebnis einer bunten, traditionsreichen Welt.